Wanderlust - Eine nicht ganz wahre Geschichte


Vor dem 18. Geburtstag meiner Zwillingstöchter Luise und Sophie in diesem Jahr haben wir auf der Suche nach einem Überraschungsgeschenk in alten Sachen gewühlt. In einem Kleiderbeutel, von dem es seit 13 Jahren heißt, dass er nächste Woche der Caritas gespendet wird, fanden wir kleine weiße Pantalons mit einem gescheckten Design, das an Kuhfell erinnern soll; darauf Reste hellbrauner Flecken, die trotz vieler Kochwäschen durchschimmern. Sie stammten aus der Zeit, als es zweckmäßig war, vor der Teilnahme an einer sogenannten FÖN-Wanderung mit seinem Leben abgeschlossen zu haben.

Die Wanderungen endeten gewöhnlich mit Kanuunglücken, Verbrennungen 3. Grades und Personenkontrollen durch Bundesbehörden. Nachdem also wieder einmal sicher war, dass am betreffenden Wochenende mit einer Extremwetterlage zu rechnen war (nur einer der Gründe, weswegen sich Werner mit dem Klimawandel beschäftigt), hatte er die Route durch ein ihm unbekanntes uckermärkisches Waldstück bestimmt, in dem kein Handyempfang war. Im Verein mit Iduna hatte er die Deutsche Bahn dazu überredet, an einem, seit der Wende verlassenen Bahnhof zu halten. Im Zug wurde gelacht und gespielt. Uta verteilte ihre hartgekochten Eier und Heiderose holte kleine Likörfläschchen raus. Elke kicherte. Hartmut konnte wiedermal nicht mitkommen.

Uns hatte Werner extra zu leichter Wanderkleidung aufgefordert, ein kundig scheinender Rat, dem wir im Gedanken an die ohnehin vielen Klamotten, die wir für die drei Kinder mitzuschleppen hatten, leichtfertig gefolgt waren. Als wir 98 Kilometer nördlich von Berlin-Lichtenberg die Wetterscheide passiert hatten und ausstiegen, brach das Unwetter los und Werner sagte: „Es ist nicht weit.“ Wegen des Starkregens stierte man ab Verlassen des maroden Bahnsteigs auf das leichte Schuhwerk der Vorderleute. Die ersten fünf Stunden trotteten alle demjenigen hinterher, der gerade vorne lief. Anfangs versuchte man einige Gespräche. Unsere Zwillinge waren fünf Jahre alt und haben die ganze Zeit nicht geweint. Werner brauchte keine Karte. Er behauptete stoisch, bestimmte Lichtungen wiederzuerkennen, an denen er vor 30 Jahren mit Hartmut illegale Müllkippen gedreht hatte. Irgendwo schlugen sich Schölzels halbwüchsige Kinder.

Der Trupp zerfaserte regelmäßig in mehrere Gruppen, die alle halbe Stunde beschlossen, stehen zu bleiben, um auf die anderen zu warten. Rufe in der Wildnis. Heideroses Rucksack war nach kurzer Zeit um viele Milliliter leichter geworden. Die versprochene urige Rast fiel aus. Der letzte Proviant war längst an die Kinder verteilt worden. Martina hatte als erste Tränen in den Augen. Iduna hatte noch Zigaretten. Werner trug die letzten 18 Kilometer Luise auf seinem Lederrücken, wodurch er trocken blieb und sich das Jackenfett in die Pantalons unserer Tochter brannte. Ich trug Sophie und wusste, wie ergriffen sie später erzählen würde, dass ihr Vater sie bis zum Tod durch Kollabieren getragen haben würde. Einander aufmunternde Blicke waren bald nicht möglich, denn es war dunkel geworden. Da wagten wir die Meuterei gegen den Kapitän und erklärten, dass wir nun bis zum Eintreffen der Rettungshunde keinen Schritt weitergingen. Werner sagte, jetzt wären es sicher nur noch 3 Kilometer geradeaus. Dann stolperte er über etwas. Es waren die Treppenstufen des Gutshauses, in dem er unser Quartier organisiert hatte.

Am nächsten Tag war strahlender Sonnenschein, abends wurde im Park gegrillt, es entstand ein schönes Gruppenfoto.

Hellmuth Henneberg, erzählt zum 20. FÖN-Geburtstag 2011